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OVARTACI - crazy, queer and loveable
Eine Oper für 13 Komponist*Innen der Atonale e.V. Berlin
Idee & Libretto: Tanja Langer

Die Oper Ovartaci ist inspiriert von Werk und Leben des dänischen Künstlers Louis Marcussen (1894-1985), der 56 Jahre seines Lebens in psychiatrischen Einrichtungen verbrachte. Er hatte das Glück, dass die behandelnden Ärzte ihm gestatteten, künstlerisch tätig zu werden, sein Werk fand noch zu Lebzeiten Anerkennung. Marcussen gab sich selbst den Namen Ovartaci, frei nach dem jütländischen Wort „Overtossi“: „Ober-Idiot“. Seine Arbeiten sind heute in einem eigenen Museum in Aarhus zu besichtigen: eigenwillige Fabelwesen, halb Mensch, halb Tier, aus Pappmaché und Sardinenbüchsen, Pfeifenhalter aus Zahnpastatuben, Gemälde und Flugobjekte. Er kreierte Wörterbücher für eine künftige Weltsprache (Chinesisch) und erfand sich ein Universum aus Spielgefährten. Was ihn darüber hinaus zu einer faszinierenden Gestalt macht, ist sein dringlicher Wunsch, eine Frau zu sein; wiederholt versuchte er sich selbst zu kastrieren, was ihm schließlich gelang und dazu führte, dass der dänische Chirurg Dr. Barfood bei ihm im Alter von 63 die Geschlechtsumwandlung vollzog.
Die ganze Welt in einem Raum
Die Oper möchte der Frage nachgehen, weshalb Ovartaci so besessen war von der Idee, als Frau ein besserer Mensch sein zu können, warum er jeden Preis zu zahlen bereit war, um diese Idee zu verwirklichen - diese Grundfrage bietet den dramaturgischen Spannungsbogen. Offensichtlich ging es nicht so sehr um das Gefühl, im falschen Körper zu sein, sondern darum, als Mann gewalttätig zu sein. Welches Männlichkeitsbild steckt dahinter? Welche Gewalt hat er selbst vielleicht erlebt? Beim Vater? Bei seinen Geschwistern? In seinem kleinen Dorf, wo man ihn als Außenseiter ablehnte, als ein Kind mit großer Phantasie, das sich gern Mädchenkleider anzog? Wie kam er dazu, Frauen zu „göttlichen“ Wesen zu idealisieren?
Wie lässt sich dem inneren Aufruhr, der ihn plagte, Gestalt verleihen? Der Wechsel zwischen großer Angst, bedrohlicher Instabilität und monomaner „Mürrischkeit“ auf der einen Seite, künstlerischer Ausdruckskraft, Charme, Erzählertalent andererseits? Wir erzählen von einem Menschen, der sich mit seiner Vorstellungskraft die ganze Welt in sein Zimmer in einer psychiatrischen Klinik holte, sein Bewusstsein ständig zu erweitern suchte, in einem winzigen Lebensraum, mit der Kraft seiner Imagination.
Dreizehn Szenen
Die Oper soll ausdrücklich inspiriert sein von Ovartaci, erlaubt sich naturgemäß jedoch einige Freiheiten im Umgang mit dem biografisch-künstlerischen Material. In dreizehn Szenen erleben wir Ovartaci allein, mit realen Gestalten und denen seiner Phantasie, darunter einige Chorszenen, die wir außer mit den fünf SängerInnen auch durch Puppen und mit Schattenspielen darstellen möchten.
Ovartaci gegenüber stehen u.a. der Arzt, der ihn behandelt, mit dem er sich „auf Augenhöhe“ zu unterhalten bemüht, mit seinen tragikomischen Monologkaskaden, Vater und Mutter, die Dörfler als Gruppe, die ihn ausschließt, die anderen Patienten, die ihm hingerissen zuhören, wenn er aus seinem Leben erzählt, ihn als ihren „König“ feiern, oder die Gruppe von Indianern, mit einem Medizinmann an der Spitze, mit denen er Halluzinogene nimmt und in einen Rausch gerät, der ihm zum Verhängnis wird. Denn mit dreißig Jahren unternahm der gelernte Maler und Dekorateur aus Jütland, der sich früh für esoterische Schriften, fremde Sprachen und die „großen Fragen des Lebens“ begeisterte, eine Reise nach Argentinien. Er lebte dort drei Jahre, oft unter harten Bedingungen, was ihm später ermöglichte, längere Zeit ohne Nahrung und mit großen Schmerzen auszuhalten. Seine Experimente mit Rauschmitteln waren vermutlich der Auslöser für eine schwere Psychose, die Ovartaci Zeit seines Lebens nicht mehr verließ. Äußerst instabil kehrte er in seine Heimat zurück, er arbeitete als Heizer in einem Frachter (eine Szene), wo er sich von Ängsten befallen sieht und Stimmen hört. Paranoid, richtet er das Gewehr auf einen seiner Brüder und wird von der Familie in die Psychiatrie eingewiesen (Szene).
Ovartaci war der Überzeugung, als andere Wesen bereits gelebt zu haben, Wesen, die er in seinen Arbeiten darstellte: als Puma und Schmetterling, im alten Ägypten und auf dem Mond. Davon „erzählt“ er; wir sehen ihn z.B. vor einem riesigen Mond aus Pappmaché, in den heutige Aufnahmen von Raumfahrtexpeditionen geblendet werden (die Sehnsucht des Menschen, Grenzen zu sprengen, sie immer weiter auszudehnen). Er begegnet Frau Luna, sie blicken auf den reichen, doch zerbrechlichen Planeten Erde, auf das Siebengestirn, Liebe und Leid, Ovartaci sitzt in seinem selbstgebauten Flugkörper, halb Häwelmann („mehr, mehr!“), halb Astronaut und Gelehrter … 
Doch dann kippt die Stimmung. Ovartaci wird extrem unruhig, böse Stimmen zerren an ihm, er hat große Angst, brüllt einen Pfleger an, stößt in fort, er wird in eine „Vision“ katapultiert:
Er befindet sich vor den ägyptischen Pyramiden (Projektionen von heutigen Menschenmengen, Bilder von Übergriffen von Männern auf Frauen), verliebt sich dort in eine Schönheit, die er im Liebes“kampf“ tötet, was ihn in Folge als tiefes Schuldgefühl begleitet und jede Aufwallung der Lust als schreckliche Pein erleben lässt. Darüber spricht er mit dem Arzt, mit dessen Hilfe er beginnt, nach besseren „Anteilen“ seiner selbst zu suchen. Große Einsamkeit befällt ihn.
Er baut sich eine lebensgroße Figur, in die er sich dann (Pygmalion-Motiv) verliebt, die halb Pferd, halb weibliches Wesen ist, mit langen Wimpern an den Augen, die er am Abend schließt, und einem Maul, in das er Süßigkeiten legt, mit der er zärtlich spricht und die lebendig wird, ihm antwortet: seine Utopie der Liebe. Er begegnet einer alten Chinesin, die ihm das Geheimnis einer globalen Sprache anvertraut.
Doch immer noch wird er davon gequält, ein Mann zu sein. Immer wieder erlebt er das Gefühl einer Auslöschung, fragt, „Was aber ist der Tod? / ich stand immer wieder / auf wie eine Blume / wächst erneut / nach jedem Winter kehrt zurück“.
Schließlich gelingt es Ovartaci, sich in einer hochdramatischen Szene zu „entmannen“; in der letzten Szene sehen wir ihn als Frau, voll Dankbarkeit mit dem Chirurgen, der ihn dazu gemacht hat.

Dramaturgie / Musik
Ovartacis verzweifelte Versuche, sich als Mann zu
töten“, und das gute Ende, eine Frau zu sein,
sind dramatische Eckpfeiler und Höhepunkte, doch genauso wichtig sind die poetischen Szenen, in denen zum einen seine Krankheit, die ihn bedrängt, die Gesellschaft, in der er lebt, sowie die Kraft seiner Phantasie zur Geltung kommen.
Bedeutend ist die dramatische Linie (Plot), um einen innigen Zusammenhang herzustellen, denn die KomponistInnen werden nicht jede/r für sich allein arbeiten, sondern intensiv miteinander kommunizieren und in einer Art „utopischen Gemeinschaft“ zusammen arbeiten, in der ihre Eigenheiten in ein korrelatives Verhältnis zueinander treten (indem etwa drei KomponistInnen sich auf ein harmonisches grundgerüst beziehen oder verbindende Zwischenspiele geschaffen werden, um nur zwei beispiele zu nennen). Zugleich steht jede Szene für sich, in eben dieser individuellen Eigenheit.
In der Inszenierung sollten heutige Bezüge (Technologie, Gender, Männlichkeitsproblematik) diskret hergestellt werden (Projektionen etc.); die Gestaltung der Bühne sollte sich an Werken Ovartacis orientieren (seine „Pferdefrau“, Mond und Gestalten aus Pappmaché etc.), um ihn so auch zu würdigen.

Wer bin ich? Und wer die anderen?
Über Ovartacis Geschichte lassen sich Fragen nach der eigenen Identität zwischen den Geschlechtern, zwischen Krankheit und Gesundheit (was ist das?), Phantasie und Wahn, und den Grenzen, die zwischen ihnen verlaufen, thematisieren.
Die Problematik gewalttätiger Männlichkeitsbilder, die unbewusste Angst, wenn ein Mensch schwere Gewalt erlebt hat, die sogar zu psychischer Krankheit führen, der gesellschaftliche Umgang damit, aber vor allem auch die existenzielle Sehnsucht danach, aus dem eigenen Gefangensein hinauszukommen, sind für uns zentrale Fragen, denen wir nachgehen möchten.